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AutorenbildAnne Estermann

Punkt, Strich … Semikolon! [TW]

Triggerwarnung:


In dem nachfolgenden Blogbeitrag geht es um die Themen Depression und Suizid. Dies anlässlich des Suizid-Bewusstseinsmonats September sowie des Depression-Bewusstseinsmonats Oktober. Die im Blogbeitrag gezeigten Fotos sind sinnbildlich zu verstehen und die Leser sind ausdrücklich auf den Inhalt dieses Beitrages hingewiesen. Somit geschieht das Lesen auf eigene Verantwortung.


Nützliche Informationen für Menschen, die selber betroffen sind oder jemanden kennen, der betroffen ist, findet man am Ende des Blogbeitrages.



Meine erste Erfahrung mit einer Depression hatte ich, als ich noch sehr jung war.


Meine Familie und ich zogen innerhalb Deutschlands um, genauer gesagt lagen zwischen der alten Heimat und dem neuen Wohnort 810km. Diese trennten mich von allem, was ich bis dahin kannte, vor allem von meinen Freunden. Und in dem neuen Zuhause fand ich sehr lange keinen Anschluss und war sogar Mobbing ausgesetzt.


Immer mehr kapselte ich mich in dieser Zeit von meiner Umwelt ab, sass stundenlang in meinem Zimmer und hörte Musik. Und ich war ständig traurig, was sich bis ins Teenageralter zog. Und mit Eintritt in die Jugend hatte ich weitere, traumatische Erlebnisse. Jedoch wurde in den 90ern noch nicht so viel hinterfragt und wenn man als Kind nicht der «Norm» entsprochen hat, galt man sowieso recht schnell als Sonderling. Doch das Sprechen über Probleme oder Gefühle war rar und was in irgendeiner Form für die Erwachsenen schwierig schien, wurde einfach «unter den Teppich gekehrt». Soll heissen, dass Probleme selten bis nie angesprochen wurden und wenn doch, wurde letztlich so getan, als ob nie etwas geschehen war. Ich glaube aber auch, dass psychische Erkrankungen damals noch keinen grossen Stellenwert hatten und auch vieles gar nicht gross bekannt war. Der Fokus lag auf der körperlichen Gesundheit und man hatte einfach zu funktionieren.


Jedoch heute, rückblickend gesehen, litt ich an einer Depression.


Heutzutage weiss man, wie ungesund es für den Körper, aber besonders auch für die Psyche ist, wenn man keine klare Diagnose und damit auch keine Hilfe erhält. Und was sich negativ auf die Psyche auswirkt, kann sich letztlich auch auf den Körper auswirken und umgekehrt, denn Körper und Geist beeinflussen sich gegenseitig.


Zum Glück sind wir heute einige Schritte weiter und es gibt viele Menschen, die ihr Leiden öffentlich machen. Darunter befinden sich auch viele bekannte Gesichter wie Jim Carrey, Lady Gaga, oder auch deutsche Stars wie Kurt Krömer und Nora Tschirner. Doch braucht das Thema noch mehr Aufmerksamkeit, mehr Einfühlungsvermögen, denn oft stecken ganz verschiedene Geschichten, Geschehnisse und Auslöser dahinter. So weiss man mittlerweile auch, dass Depressionen vererbt werden können. Ein Kind, welches depressive Familienangehörige hat, hat eine viel höhere Tendenz selber einmal an Depressionen zu erkranken. Doch auch Traumata, welche durch äussere Einflüsse versursacht werden, können Depressionen auslösen.



Ein offener Brief ohne Antwort


Vor 13 Jahren hast du mich noch einmal angerufen.


Es war fast 18.00 Uhr und ich schleppte gerade meine Einkäufe nach Hause. Ich sah, dass du mich angerufen hast und ich habe dich sofort zurückgerufen, als ich zu Hause angekommen war. Erst entschuldigte ich mich, dass ich das Handy nicht früher abnehmen konnte und ging nervös den Flur auf und ab. Die letzten Monate zerrten an mir, hatte ich immer das Gefühl, dir nicht genug helfen zu können.


Ich hörte dich aber am Telefon lächeln und wie immer warst du verständnisvoll und auch ruhig.


Im Nachhinein gesehen eigentlich fast zu ruhig ...


Ich fragte dich, wo du warst und du sagtest, dass du zu Hause wärst. Ich war fast euphorisch als ich dir sagte, dass ich das toll finde und du dir einen schönen Abend machen sollst. Am nächsten Tag gab es ein Meeting und ich wies dich noch daraufhin und dass wir uns dann sehen würden. Du zögerst, aber du bejahtest und sagtest mir noch, was ich für ein «wundervoller Mensch wäre und ich so bleiben solle wie ich bin». Ich fühlte mich geschmeichelt, aber musste auch lachen. Ich sagte dir, dass es sich ja wie ein Abschied anhören würde.


Was ich jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht wusste war, dass es in der Tat ein Abschied war.


Wir legten auf und ich lenkte mich ab, indem ich die Einkäufe wegräumte, etwas zu Abend kochte und durch das Fernsehprogramm zappte. Doch in der Nacht, gegen 4 Uhr morgens, schreckte ich plötzlich aus dem Schlaf hoch. Ich sass mit aufgerissenen Augen im Bett und wusste nicht einmal wieso. Da ich nicht mehr einschlafen konnte, ging ich gegen 6 Uhr in die Arbeit.


Und du?


Du bist nicht aufgetaucht.

Du bist nie wieder aufgetaucht.

Denn an diesem Morgen hast du dir das Leben genommen ...



Zurückgelassen in einer Blase


Die damalige Zeit in Worte zu fassen, fällt mir noch heute schwer. Und ich bemerkte damals natürlich, wie er immer tiefer in eine Depression rutschte, jedoch blieb mir seine Suizidalität verborgen. Da ich aber um seine schlechte psychische Gesundheit wusste, versuchte ich mit ihm darüber zu reden. Leider konnte ich ihn aber nicht von seiner Tat abhalten und hatte nach seinem Ableben mit Schuldgefühlen und einer grossen Traurigkeit zu kämpfen. Ich weinte, bis ich nicht mehr weinen konnte und mit mir taten es viele andere Menschen auch, die ihm nahe standen. Irgendwann hatte ich starke körperliche Schmerzen, die ich mir erst nicht erklären konnte. Doch der gesamte Körper wurde durch den Verlust in Mitleidenschaft gezogen. Rückblickend gesehen, litt ich zu dieser Zeit wieder unter einer Depression und habe die Zeit als sehr vernebelt wahrgenommen. Ich war wie in einer Blase gefangen und durchlief alle Phasen, welche man durch solch einen Schock erleiden konnte. So stolperte ich von einem Gefühl der Ohnmacht über das Leugnen bis hin zur Wut. Ich war schier nicht ich selber.


Doch nach und nach setzte ich mich mit den Themen «Depression und Suizid» auseinander, ging zur Therapie, las viele Bücher, unterhielt mich mit anderen Betroffenen und bemerkte schnell, dass man trotz unterschiedlicher Erfahrungen doch einiges gemeinsam hatte. So versuchten Aussenstehende auch zum Beispiel einem Hinterbliebenen einzureden, «wieder in die Normalität zurückzukehren». Und das nur Wochen oder ein paar Monate nach der Tragödie. Ich empfand diese Aussage damals schon als unangebracht und empfinde noch heute das Gleiche.


Denn niemand darf einem vorschreiben, wie lange man um jemanden trauern darf! Das ist nämlich von Mensch zu Mensch unterschiedlich und kann Wochen, Monate, sogar Jahre dauern. Vergessen kann man sowieso nicht.



Deshalb setze ich mich weiterhin für mehr Bewusstsein ein. Für mehr Bewusstsein für physische, doch auch psychische Erkrankungen wie Depressionen und Suizidalität. Die ersten An- und Alarmzeichen zu erkennen ist dabei wichtig.


Und ich weiss, dass viele Angst davor haben, einen Betroffenen auf seinen Zustand, oder auch direkt auf seine Suizidalität anzusprechen. Aber mittlerweile weiss man, dass man ihm dadurch helfen kann. Denn es zeigt einem Suizidenten, dass man ihn ernstnimmt und er offen über seine Gefühle und Gedanken sprechen kann. Und obwohl ich keine ausgebildete Fachperson auf dem Gebiet bin und durch meine eigenen Erfahrungen weiss, dass man nicht jedem Menschen helfen kann, kann ich mich doch in meine Mitmenschen hineinversetzen. Ich weiss, wie sich ein Betroffener, aber auch ein Hinterbliebener fühlt.


Und reden hilft!



Ein Satzzeichen als bewusstseinserweiternder Trend


Der Trend um das Semikolon wurde im Jahr 2013 durch die Amerikanerin Amy Bleuel ins Leben gerufen. Sie selber litt unter Depressionen und sehr unter dem Verlust ihres Vaters, der Suizid begangen hatte. Ihr Projekt soll anderen Menschen helfen und die Suizidprävention fördern.


Das Semikolon wird in der Grammatik als Symbol für die Stelle in einem Satz verwendet, an welcher die Autorin oder der Autor hätte aufhören können, sich aber dafür entschieden hat, weiter zu schreiben. Dieses Konzept wurde von Amy metaphorisch auf das Leben angewendet und steht für den Punkt, an dem eine Person hätte aufgeben wollen, aber beschlossen hat, weiter zu machen.


Viele Betroffene verwenden seither das Symbol, lassen es sich sogar tätowieren, oder setzen es bewusst zum Beispiel via Social Media in Szene, um auf Suizid aufmerksam zu machen und das Bewusstsein für psychische Erkrankungen zu fördern.


Das Semikolon ist demnach mehr als «nur» ein Satzzeichen. Es gibt Menschen Mut und Kraft, die selber schon unter Hoffnungslosigkeit und/oder Suizidgedanken gelitten haben. Es steht für das Überleben, für die Hoffnung und auch für die Entscheidung, bewusst trotz grosser Herausforderungen weiter zu leben.



An dieser Stelle geht meine grösste Zuneigung an alle raus, die:


🤍 eine schwere Zeit durchmachen,

🤍 unter Depressionen leiden,

🤍 quälende Suizidgedanken haben,

🤍 unter physische und/oder psychische Schmerzen leiden,

🤍 den Glauben an sich und ihr Leben verloren haben, dass es jemals wieder besser wird,

🤍 einen lieben Menschen durch Suizid verloren haben,

🤍 das Gefühl haben, dass sie alleine sind,

🤍 das Gefühl haben, dass niemand sie versteht,

🤍 keine Kraft mehr haben, um weiter zu kämpfen,

🤍 das Gefühl haben, eine Bürde für ihre Mitmenschen zu sein,

🤍 Vorwürfe wie «Reiss dich mal zusammen!» zu hören bekommen,

🤍 denken, sie dürfen keine Schwäche oder Tränen zeigen,

🤍 glauben, nie wieder glücklich zu werden oder lachen zu können, …


Ich kenne all diese Gefühle, den grossen Schmerz und die Hoffnungslosigkeit. Und ein Suizid mag eine Lösung darstellen, aber die Unendlichkeit wiegt schwer(er).


Sie wiegt schwer auf dem Herzen eines Depressiven/Suizidenten, letztlich aber auch auf jenen, welche man in ihrem Schmerz zurücklässt. Deshalb scheut Euch nicht, Hilfe zu holen. Es ist nämlich keine Schande, Hilfe zu benötigen und diese auch anzunehmen. Auch ist es keine Schande, an einer Depression zu erkranken, denn es kann jeden treffen. Doch wäre es eine Schande, sich und sein Leben aufzugeben.


Denn das Leben bietet mehr: Es ist nicht nur schwarz oder weiss, es ist bunt! Und es darf auch mal grau sein, denn nicht jeder Tag ist gleich. Und es gibt sehr schwere Zeiten im Leben, ich weiss das aus eigener Erfahrung. Aber mit der richtigen Unterstützung kann man die schönen Farben wieder sehen. Glaubt mir. Euer Leben will gelebt werden und zwar durch Euch.


Ihr seid wichtig! 🤍


Eure Anne



Solltet Ihr oder jemand, den Ihr kennt, an Depressionen und/oder Suizidalität leiden, wendet Euch bitte an einen Menschen, dem Ihr vertraut, Euren Hausarzt, oder auch an eine der nachfolgenden Stellen. Dort bekommt Ihr auch anonym Hilfe.


Schweiz:

147.ch (via Telefon + WhatsApp unter 147 und auch Mail + Chat von Projuventute Schweiz),

143.ch (Die Dargebotene Hand, das Schweizer Sorgentelefon unter 143)


Deutschland:

0800 3344533 (Info-Telefon der Deutschen Depressionshilfe),

0800.1110111 oder 0800.1110222 (telefonseelsorge.de per Telefon, Mail, Chat oder vor Ort)


Österreich:

147 (Rat auf Draht),

Helpline 01/504 8000 (psychologische Hilfe bei Krisen)


Auch gibt es online hilfreiche Videos und Beiträge von ausgebildeten Therapeuten zu den Themen Depression und Suizid. Ein Video, welches ich sehr empfehlen kann, ist von Micheline Maalouf. Sie ist ausgebildete Therapeutin für psychische Gesundheit in Amerika.


HIER kommt Ihr zu ihrem Video in englischer Sprache.


Hinweis:

Alle oben aufgeführten Angaben erfolgten per Veröffentlichungsdatum und sind ohne Gewähr. Auf den Inhalt sowie jegliche Änderungen hatte und habe ich keinen Einfluss. Auch erfolgten die Angaben auf meinen persönlichen

Wunsch, eine Zusammenarbeit bestand zu keiner Zeit.

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